Unklare Strategie: Ruiniert Microsoft gerade Windows?

Vor gut acht Wochen hat Microsoft auf der eigens dafür einberufenen Konferenz Build im kalifornischen Anaheim Windows 8 vorgestellt. Immer wieder fiel der Begriff „Reimagining Windows“, was frei übersetzt etwa soviel heißt wie „Windows neu denken“. Es stellt sich aber die Frage, ob die Redmonder das Ganze auch zu Ende gedacht haben. Einige der Konzepte lassen jedenfalls starke Zweifel aufkommen.

Viel Licht …

Um es gleich vorweg zu sagen: Windows 8 hat viele positive Aspekte, etwa schnellere Boot-Zeiten, einen integrierten Virenscanner, verbesserte Multi-Monitor-Fähigkeiten und Feinschliff an der Oberfläche. So werden mehrere Kopiervorgänge künftig in einem Fenster zusammengefasst und lassen sich einzeln pausieren. Nichts Dramatisches, aber trotzdem ganz praktisch.

Klar auf der Haben-Seite steht auch die Unterstützung von ARM-Prozessoren, die Basis für günstige, lüfterlose PCs und natürlich Tablets. Mit der Metro-style-Oberfläche – optisch an Windows Phone 7 angelehnt – bekommt Windows zudem endlich ein Interface, das ohne Einschränkung für die Fingerbedienung geeignet ist.

Die Oberfläche ist deutlich leistungsfähiger als die dies iPad oder von Andorid-Geräten. So lassen sich beispielsweise in einer Bildschirmansicht zwei Apps parallel betreiben. Letztlich versetzt das Interface Windows 8 in eine gute Ausgangslage, um nicht mehr nur die Lach- und Schlussnummer auf dem Tablet-Markt zu sein.

… und noch mehr Schatten

Und genau hier beginnt aber das Problem: In Redmond hat man sich nämlich in den Kopf gesetzt, das Interface, von dem jeder dachte, es sei nur für Tablets konzipiert, zur Standardoberfläche von Windows zu machen. Im Klartext: Anstatt Startmenü und Desktop sind künftig Live Tiles und Vollbild-Metro-style-Apps angesagt.

Metro-style-Apps haben nicht nur eine veränderte Optik, vor allem liegt ihnen ein neues Applikationsmodell zu Grunde. Es bietet zahlreiche Vorteile: Beispielsweise sollen sich Apps einfach aus dem Windows Store installieren und updaten lassen. Zudem ist laut Microsoft eine rückstandsfreie Deinstallation möglich. Die Apps ermöglichen aufgrund der Einschränkung von Hintergrundprozessen einen akkuschonenden Betrieb, klinken sich sinnvollerweise in das neue Benachrichtigungssystem von Windows ein und lassen sich samt ihrer Einstellungen über mehrere Maschinen hinweg synchronisieren.

Diesen positiven Eigenschaften steht aber gegenüber, dass sie – abgesehen von einem Docking-Modus – nur im Vollbild laufen und mit ihnen das bekannte Fenster-Konzept über Bord geworfen wird. Würde es sich nur um das Tablet-Interface handeln, wäre dies kein Problem. Microsoft geht aber davon aus, dass Metro-style-Apps für die Touch- und Mausbedienung gleichermaßen geeignet sind. Jensen Harris, zuständig für die User Experience von Windows, ruft Entwickler in seiner Build-Session dazu auf, in ihren künftigen Applikationen für beide Eingabemethoden unbedingt dasselbe Interface zu verwenden.

Die Maus ermöglicht eine höhere Informationsdichte

Aufgrund ihrer erheblich höheren Präzision ermöglicht die Maus aber eine erheblich höhere Informationsdichte auf dem Screen und eine im Vergleich zur Fingerbedienung höhere Produktivität. Das liegt eigentlich auf der Hand, scheint bei Microsoft als Argument aber nicht zugelassen zu sein. Harris geht davon aus, dass man jeden Screen ohne Touch-Eigenschaften in ein paar Jahren als „kaputt“ bezeichnen wird.

Natürlich kann man sich ohne weiteres vorstellen, dass künftig jedes Display fingerbedienbar ist. Einen feststehenden 24-Zoll-Screen den ganzen Tag per Touch zu bedienen, ist ergonomisch aber eine Katastrophe. Bei den heute verfügbaren All-in-Ones ist das ja schon möglich, wird aber aus dem besagten Grund von den meisten wohl nur ab und zu genutzt – das Drehen der Erdkugel einer Karten-Anwendung ist das Paradebeispiel.


So sieht der Internet Explorer 10 als fingerfreundliche Metro-Oberfläche aus. Mit einer Maus-optimierten Oberfläche könnte man deutlich mehr Tabs ansteuern.

Natürlich kann man mit einem Mausklick auf den bekannten Desktop wechseln und dort seine bekannten Anwendungen laufen lassen. Microsoft verspricht vollständige Kompatibilität zu Windows 7. Die Redmonder haben aber bereits mehrfach deutlich gemacht, dass die Desktop-Welt etwas von gestern und eigentlich nur noch für Visual-Studio- und Photoshop-Anwender sinnvoll sein wird. Für den klassischen Desktop gibt es jedenfalls kein neues Applikationsmodell mit den oben beschriebenen Vorteilen.

Laut einem Posting im offiziellen Windows-8-Blog wird es auch künftig nicht möglich sein, Updates für die Anwendungen von Drittherstellern über die komfortable Windows-Update-Infrastruktur auszurollen. Das heißt, jedes Programm braucht nach wie vor einen eigenen Updater. Gleichzeitig wird darauf hingewiesen, dass die Metro-style-Apps zentral aktualisiert werden. Moderne Smartphones lassen grüßen.

Den Beweis, dass Metro tatsächlich für Produktivitätsanwendungen taugt, bleibt Microsoft bislang aber schuldig. Im Lieferumfang der Developer Preview befinden sich nämlich überwiegend Apps wie Facebook- und Twitter-Clients, ein Malprogramm und eine Fotoanzeige. Wie ein Metro-style-Office, -Sharepoint oder -CRM aussieht, steht dagegen in den Sternen.

Fazit

Die Verantwortlichen in Redmond sollten das Chaos um Metro-style-Apps, Finger- und Mausbedienung entwirren. Denn die aktuelle Lösung, zumindest in der Form, wie sie kommuniziert wird, stellt die meisten Nutzer nicht zufrieden. Das zeigen auch die ellenlangen Threads auf die Postings im Windows-8-Blog. Es sieht so aus, als würde Microsoft seinem Flaggschiff schweren Schaden zufügen.

ZDNet.de Redaktion

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