Street View: echte Eier gegen virtuell verpixelte Häuser

So hatte sich Bundesverbraucherschutzministerin Ilse Aigner (CSU) das wahrscheinlich nicht vorgestellt: In Essen kam es zu ersten Offline-Protesten gegen die Verpixelung von Häusern. In Street View unkenntlich gemachte Gebäude wurden mit Eiern beworfen – und zwar keinesfalls virtuell, sondern ganz real. Damit die Bewohner auch den Grund der Verunstaltung erfahren, brachten die Eierwerfer Zettel mit der Aufschrift „Google’s cool“ an den Briefkästen an.


Die Besitzer dieses Hauses in Essen wollen keine Blicke der Öffentlichkeit auf ihr Domizil. Jetzt müssen sie mit Eierwürfen rechnen (Bildquelle: Google Street View).

Wer glaubt, das ginge einen Schritt zu weit, hat bestenfalls moralisch recht, nicht aber juristisch. Gegenüber derwesten.de erklärte ein Polizeisprecher, dass Eierwürfe den Tatbestand der Sachbeschädigung nicht erfüllen, da keine bleibenden Schäden verursacht werden. Die Polizei bleibt untätig – ob gewollt oder ungewollt, sei einmal dahingestellt.

Die meisten Verpixeler dürften auf die „Marketingkampagne“ der Ministerin hereingefallen sein. Sie erzeugte nämlich zumindest unterschwellig das Gefühl, Street View sei ein gigantischer Cluster von Webcams, der den Live-Blick in jedes deutsche Schlafzimmer erlaube. Google sollte quasi den Ruf einer globalen „Stasi“ im Internet bekommen, während „Bürgerdienste“, etwa der faktisch für tot erklärte staatliche Schnüffeldienst ELENA, dem Wohl der Allgemeinheit dienen. Selbst der Bild-Zeitung ging das einen Schritt zu weit. Sie versuchte, ihre Leserschaft aufzuklären – in vielen Fällen allerdings vergeblich.

Martin Sonneborn karikierte Street View in der heute-show mit dem fiktiven Dienst „Google Home View“. Die Ironie wurde vielfach nicht verstanden (Video: ZDF).

Die Rechtslage in Deutschland ist eindeutig: §23 Absatz 2 des Kunsturhebergesetzes (KunstUrhG) erlaubt die Veröffentlichung von Bildern, auf denen die Personen nur als Beiwerk neben einer Landschaft oder sonstigen Örtlichkeit erscheinen. Und es gilt natürlich der Satz: „Was offline erlaubt ist, muss auch online erlaubt sein“. Googles durchaus kostenintensive Verpixelung ist eigentlich eine freiwillige Leistung, allerdings drohten einige Politiker mit einem Anti-Street-View-Gesetz.

Jetzt fühlen sich viele Street-View-Nutzer bei ihrem virtuellen Rundgang gestört. Auch Bewohner von Mehrfamilienhäusern ärgern sich, dass mindestens ein Mitbewohner das Gebäude hat verpixeln lassen. Zieht der entsprechende Mitbewohner aus, bleibt das Haus verpixelt, denn Google hat nach eigenen Angaben keine Kopien mit unverpixelten Aufnahmen. Durch Umzüge dürften in Zukunft noch weitaus mehr „Milchglasscheiben“ entstehen, denn man kann weiterhin Einspruch gegen die Darstellung der eigenen Wohnung erheben.

Gedient ist damit niemandem: Diejenigen, die ihre Häuser haben verpixeln lassen, werden im Internet öffentlich verspottet und vereinzelt sogar mit „unfreiwilligen Lebensmittelspenden“ bedacht. Ministerin Aigner muss sich den Vorwurf gefallen lassen, trotz eindeutiger Rechtslage Druck auf Google ausgeübt zu haben und ihre Arbeitszeit lieber mit Street View zu verbringen, anstatt ernsthafte Probleme beim Verbraucherschutz im Internet anzugehen, etwa Sicherheit beim Homebanking, Abofallen und sonstige dubiose Angebote. Ferner wird ihre Kompentenz auf dem Gebiet des Verbraucherschutzes in Frage gestellt.

Nach meinem Rechtsempfinden ist es nicht verwerflich, öffentliches Gebiet mit Hausfassaden und Vorgärten zu fotografieren und ins Internet zu stellen. Im Gegenteil, alles andere wirft Probleme auf: Soll jemand, der private Urlaubsfotos ins Internet stellt, auf denen im Hintergrund ein Haus zu sehen ist, gezwungen werden können, dieses zu verpixeln? Eine Verletzung der Privatsphäre kann ich durch Google Street View beim besten Willen nicht erkennen.

Auch kann von einem Pranger nach dem Motto „in so einem hässlichen Haus wohnt Familie X“ bei Google Street View nicht die Rede sein. Schließlich ist es das Ziel, in absehbarer Zeit ganz Deutschland ohne jede Wertung online zu stellen. Der gleichberechtigte Zugang für alle ist gewährleistet.

Die Verpixeler bekommen jede Menge Widerstand zu spüren. Auf Facebook hat sich die Gruppe „Ungewollt verpixelt“ gegründet. Der Social-Media-Experte Jens Best hat die Website findedaspixel.de ins Netz gestellt. Dort können Nutzer die volle Adresse von verpixelten Häusern angeben. Die URL ist allerdings derzeit wegen Überlastung nur schwer zu erreichen. Ob es das ist, was die Verpixeler erreichen wollten, darf ernsthaft bezeweifelt werden.


Hausverpixeler müssen im Internet mit Hohn und Spott rechnen. Auch blog.heimwerker.de kann dem Pixelwahn wenig Positives abgewinnen (Bild: blog.heimwerker.de).

ZDNet.de Redaktion

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