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Datenschützer kritisieren vage Netzneutralitätsbestimmungen der EU

Die Entscheidung des EU-Parlaments in Straßburg für europaweit gültige Netzneutralitätsregeln mit Ausnahmen wird von Datenschützern und IT-Mittelstand überwiegend kritisch gesehen. Unter Netzneutralität ist die strikte Gleichbehandlung sämtlicher Internetdaten zu verstehen.

Der Verband Arbeitskreis Software-Qualität und –Fortbildung e.V. (ASQF) sieht die Neuregelung als Schritt in Richtung Zweiklassen-Internet. Hauptgeschäftsführer Stephan Goericke kommentiert: „Die neue EU-Verordnung wird für die Unternehmen in der Softwareentwicklungsbranche nicht ohne Folgen bleiben und zusätzliche Kosten verursachen. Auch wenn die Prinzipien ‚gleich‘ und ‚diskriminierungsfrei‘ im Sinne der Netzneutralität bemüht werden, dem Gesetz fehlt eine konkrete Eingrenzung von Begrifflichkeiten. Dieser handwerkliche Makel (ob bewusst oder unbewusst) lässt viele Fragen offen und bedeutet ein unkalkulierbares Risiko. Kostenpflichtige Spezialdienste könnten künftig die Regel darstellen. Das wird sowohl für Nutzer als auch Anbieter von innovativen Diensten und Produkten spürbare Folgen haben.“

Ähnlich sehen das Datenschutzorganisationen: „Mit der heutigen Entscheidung opfert das EU-Parlament das freie und offene Netz in Europa den Gewinninteressen einiger weniger Telekommunikationskonzerne“, sagt Alexander Sander, Geschäftsführer des Vereins Digitale Gesellschaft. „Statt den vielfach geäußerten Bedenken von Zivilgesellschaft, Verbraucherschützern, Online-Wirtschaft und Medien Rechnung zu tragen und für eine starke Verankerung der Netzneutralität zu sorgen, lässt sich das Parlament von Kommission und Ministerrat bereitwillig vor den Karren spannen. Damit schadet es der eigenen Glaubwürdigkeit ebenso sehr wie der Innovationskraft des Internet, der Meinungs- und Informationsfreiheit in ganz Europa.“

Die Initiative für Netzfreiheit kommentiert, die Parlamentarier hätten sich „entschieden, nicht zu entscheiden“, womit sie die vagen Definitionen für die zugelassenen Ausnahmen von den Bestimmungen meinen. „Wie der mehrdeutige Text künftig ausgelegt wird, liegt jetzt an Regulierungsbehörden und Gerichten.“

Auch Markus Beckedahl von Netzpolitik.org bedauert die Entscheidung in einem Kommentar, gibt aber einen etwas positiveren Ausblick: „Wir sind davon überzeugt, dass die Telekommunikationsindustrie die Chance nutzen wird, durch unklare und laxe Regeln die Netzneutralität auszuhebeln. Es wird eine Evaluierungsfrist geben. In zwei Jahren werden wir Parlament und Kommission zur Verantwortung ziehen, wenn diese Verschlechterungen die Regel werden.“

Dazu müsse man aber gegen Verletzungen der Netzneutralität klagen, schreibt Beckedahl. Wer selbst den Aufwand und die Kosten scheue, könne Datenschutzorganisationen durch Spenden unterstützen. Der Kampf werde mit der heutigen Parlamentsentscheidung schwieriger, sei aber nicht vorbei.

Der Bundesverband IT-Mittelstand e.V. (BITMi) geht noch einen Schritt weiter und sieht die Einführung europaweit verbindlicher Netzneutralitätsregeln grundsätzlich als „Chance“. „Das Hauptanliegen des IT-Mittelstandes ist, dass das Internet ein neutraler Wettbewerbsraum bleibt. Darum sind wir froh, dass alle Beteiligten das Best-Effort Prinzip beim Thema Netzneutralität als Grundlage für die Regulierung digitaler Netzwerke in Europa sehen“, sagt Präsident Oliver Grün.

Die Tatsache, dass die Datenkategorien für Eingriffe in die Netzneutralität noch nicht abschließend festgesetzt sind, sieht der BITMi kritisch. Er hofft auf eine baldige und restriktive Regelung für die in der Regelung erwähnten „Spezialdienste“, die im Bedarfsfall priorisiert werden dürfen. Grün dazu: „Spezialdienste sollten nur für bestimmte, klar umrissene Bereiche angeboten werden, und nicht als Hintertür für die Umgehung der Netzneutralität durch große Provider missbraucht werden.“

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Florian Kalenda

Seit dem Palm Vx mit Klapp-Tastatur war Florian mit keinem elektronischen Gerät mehr vollkommen zufrieden. Er nutzt derzeit privat Android, Blackberry, iOS, Ubuntu und Windows 7. Die Themen Internetpolitik und China interessieren ihn besonders.

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