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Kabinettsbeschluss zur Vorratsdatenspeicherung stößt auf massive Kritik

Das Bundeskabinett hat in seiner heutigen Sitzung einen Regierungsentwurf für eine gesetzliche Neuregelung zur Vorratsdatenspeicherung beschlossen. Dieser sieht eine Speicherpflicht sowie eine Höchstspeicherfrist von zehn Wochen für Verkehrsdaten und von vier Wochen für Standortdaten vor. Das neue Gesetz soll noch vor der parlamentarischen Sommerpause in Kraft treten.

Gespeichert werden demnach die Rufnummern der beteiligten Anschlüsse sowie Zeitpunkt und Dauer des Anrufs. Bei Mobilfunk sollen auch die Standortdaten erfasst werden. Ebenso werden IP-Adressen einschließlich Zeitpunkt und Dauer der Vergabe einer IP-Adresse vorgehalten. E-Mails sind von der Speicherung ausgenommen.

Der Bundesregierung zufolge trägt die Neuregelung dazu bei, Deutschland sicherer zu machen. Eine Speicherung von Verkehrsdaten sei für eine effektive Verfolgung schwerster Straftaten notwendig. Dabei würden die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts sowie des Europäischen Gerichtshofs eingehalten.

IT-Verbände, Datenschutz- und Bürgerrechtsorganisationen üben jedoch scharfe Kritik an dem Gesetzesentwurf, auf dessen Eckpunkte sich Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD) und Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) im April geeinigt hatten. Der Verband der deutschen Internetwirtschaft e.V. (eco) spricht von einem Fehlen des „nötigen technischen Sachverstands“, und laut Bundesverband IT-Mittelstand e.V. (BITMi) hat die Regierung „nicht dazugelernt“. Das sieht auch der Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung (AK Vorrat) so, der der Bundesregierung „unerträgliche Lernresistenz“ bei Einführung der Vorratsdatenspeicherung vorwirft. Der Verein Digitale Gesellschaft unterstellt der Bundesregierung eine „Überrumpelungstaktik“, die seiner Ansicht nach aufgrund der „Begründungsschwäche“ des Entwurfs auch erforderlich sei, und fordert die Bundestagsabgeordneten auf, dem Entwurf eine deutliche Absage zu erteilen.

Nach Auffassung des eco wirft der Gesetzesentwurf „viele technische und rechtliche Fragen auf und könnte einer zu erwartenden Verfassungsklage in der jetzigen Form nicht standhalten“. Der Verband widerspricht damit der Bundesregierung deutlich. „Der Entwurf ist an vielen Stellen schlichtweg nachlässig und ganz offenbar ohne den nötigen technischen Sachverstand formuliert“, sagt Oliver Süme, eco-Vorstand für Politik & Recht. Seiner Ansicht nach werden die betroffenen Unternehmen den Gesetzestext nicht umsetzen können.

Das sieht Oliver Grün, Präsident des BITMi, ähnlich: „Der deutsche IT-Mittelstand wird mit diesem Gesetzesentwurf geschädigt. Die Auflagen zur Speicherung der Daten gehen viel zu weit, betreffen nicht nur kleine und mittlere IT-Unternehmen, sondern unter Umständen sogar Privatpersonen. Haftungspflichten und die Vorschrift von organisatorischen und technischen Maßnahmen sind alle mit enormen Kosten verbunden, deren Erstattung fragwürdig ist. Denn sie können nur auf Antrag erstattet werden, wenn die Bundesnetzagentur zustimmt. Gleichzeitig können die Maßnahmen jederzeit vom Staat als nicht ausreichend eingestuft und mit empfindlichen Bußgeldern belegt werden.“

Außerdem bezeichnet Grün das Vorgehen der Bundesregierung in der Sache insgesamt als „zweifelhaft“. Er bemängelt insbesondere die ungewöhnliche Eile und die mangelnde Beteiligung von Verbänden. „Der IT-Mittelstand wird alleine gelassen im Kampf mit den Konsequenzen eines unausgegorenen, überstürzten Gesetzes. Ein solches Gesetz ohne die übliche öffentliche Beteiligung durchzuziehen, ist unpartnerschaftlich“, so der Präsident des BITMi weiter, der über 1200 IT-Unternehmen vertritt.

Der AK Vorrat bezweifelt im Gegensatz zur Bundesregierung die Einhaltung der Vorgaben von Bundesverfassungsgericht und Europäischem Gerichtshof vehement. Laut Kai-Uwe Steffens vom AK Vorrat „vergreifen sich die Minister Maas und de Maizière mit Unterstützung von Frau Merkel in einem Akt unerträglicher Lernresistenz erneut an den Grundrechten der gesamten Bevölkerung“. Ute Elisabeth Gabelmann vom AK Vorrat schließt sich mit der Frage „Warum diese Eile?“ dem Gedankengang von BITMi-Vorstand Grün an. „Anscheinend fürchtet die Bundesregierung die inhaltliche Auseinandersetzung zum Thema, weil sie weiß, dass das Vorhaben weder erforderlich noch zweckdienlich und schon gar nicht verhältnismäßig ist“, so Gabelmann.

„Mit dem heute eilends herbeigeführten Kabinettsbeschluss unterstreicht die Bundesregierung noch einmal ihren Willen, eine öffentliche Debatte über die Vorratsdatenspeicherung gar nicht erst aufkommen zu lassen“, findet auch der Verein Digitale Gesellschaft. Dessen politischer Referent Volker Tripp wird in einer Pressemitteilung mit den Worten zitiert: „Diese Überrumpelungstaktik ist angesichts der Begründungsschwäche des Vorhabens wenig verwunderlich und angesichts seiner Grundrechtswidrigkeit verheerend. Zudem werden schon jetzt Forderungen nach einer Verschärfung des Gesetzes laut.“ Der Verein weist zudem darauf hin, dass keine Belege für die Wirksamkeit bei der angestrebten Verhinderung und Verfolgung schwerer Straftaten geliefert werden, die als eine Rechtfertigung für die weitreichenden Grundrechtseingriffe herangezogen wird. Schließlich verletze der Entwurf aufgrund zahlreicher anderer Fehler auch deutsche und europäische Grundrechte. Konkrete Beispiele seien der unzureichende Schutz von Berufsgeheimnisträgern sowie der Straftatbestand der Datenhehlerei, der vor allem Journalisten und Whistleblower gefährde.

Das Deutsche Institut für Menschenrechte in Berlin hält die anlasslose Speicherung von Telekommunikationsverkehrsdaten ebenfalls für einen „besonders schweren Eingriff in das Menschenrecht auf Privatsphäre“. Selbst eine begrenzte Speicherdauer von vier Wochen für Standortdaten ermögliche die Erstellung aussagekräftiger individueller Persönlichkeits- und Bewegungsprofile sowie die Aufdeckung gruppenbezogener Einflussstrukturen und Entscheidungsabläufe. Die Bundesregierung bleibe mit ihrem Gesetzesentwurf den Nachweis schuldig, dass diese Maßnahmen tatsächlich erforderlich sind. Weiter erklärt das seit zehn Jahren bestehende und von Ministeriumsgeldern finanzierte Deutsche Institut für Menschenrechte, das als unabhängiger, gemeinnütziger Verein auftritt: „Mit Ausnahme weniger Deliktformen liegen die Aufklärungsquoten für die in dem Katalog des Gesetzentwurfes aufgelisteten Straftaten über 80 oder gar 90 Prozent. Es bleibt daher zu belegen, dass für die Bekämpfung schwerster Kriminalität nicht bereits heute effektive und deutlich mildere Mittel zur Verfügung stehen als die Speicherung von Kommunikationsdaten der gesamten Bevölkerung.“ Offen bleibe auch die Frage, ob die Vorratsdatenspeicherung in der nun vorgeschlagenen Form überhaupt das geeignete Mittel sei, um die beklagten Ermittlungslücken zu schließen.

Bis auf das Institut für Menschenrechte appellieren alle Kritiker an die Bundestagsabgeordneten aller Fraktionen, denen der Gesetzesentwurf nun zur Entscheidung vorgelegt wird, sich gründlich mit den möglichen Folgen zu beschäftigen und ihn abzulehnen. Sie drängen dabei auch darauf, dass die Entscheidung nicht aus Fraktionstreue zugunsten des Entwurfs ausfallen sollte – dafür sei das geplante Gesetz für die Gesellschaft zu wichtig.

[mit Material von Peter Marwan, ITespresso.de]

ZDNet.de Redaktion

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