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Peter Glotz: „Die Gesellschaft beschleunigt noch immer“

„Die beschleunigte Gesellschaft“ hieß der Bestseller aus dem Jahre 1999 von Peter Glotz. Darin entwirft der heute in St. Gallen, Schweiz, lehrende Professor und ehemalige SPD-Politiker seine Vision von der durch digitale Arbeitsweisen grundlegend veränderten Gesellschaft der Zukunft bis etwa 2014. Auf der Infoexchange-Konferenz von Computer Associates in Mannheim vor wenigen Tagen erneuerte Glotz sein Credo – und erntete dafür den längsten Applaus der gesamten Veranstaltung.

„Was ist das überhaupt – die digitale Gesellschaft“, fragte Glotz zu Beginn seines Vortrages, um ohne Umschweife sofort die Antwort zu liefern: Es handelt sich um eine charakteristische Veränderung im Umgang miteinander, und: „Wir stehen bei dieser Veränderung an einer Wasserscheide“. Dies könne man am deutlichsten an der Entwicklung der US-amerikanischen Gesellschaft ablesen. Während die ersten Impulse für die Digitalisierung bekanntlich vom deutschen Mathematiker Wilhelm Leibniz gekommen wären und bis zum ersten funktionierenden Computer von Konrad Zuse reichten, würden ebenso bekanntlich seit rund 50 Jahren sämtliche wesentlichen Trends in der Computertechnik aus den Labors in Palo Alto und Umgebung kommen. Man könnte sagen, so Glotz, dass die USA uns vier bis fünf Jahre in der Entwicklung voraus sind. Folglich ließen sich Trends für die hiesige Gesellschaft, die Glotz anschließend ausbreitete, dort schon heute beobachten.

Zunächst müsse man sich aber von dem Irrglauben verabschieden, die Digitalisierung beziehungsweise die so genannte New Economy würde tatsächlich zu neuen ökonomischen Regeln führen. Vielmehr werde die Gesellschaft selbst „umgegraben“, dies lasse sich an vier Trends festmachen:

  • Beschleunigung – der gesamte Lebensrhythmus stehe zunehmend unter Druck.
  • Globalisierung – sie betreffe nicht nur die Handelsverflechtungen, diese seien bereits zu Zeiten von Königin Victoria stark ausgebaut gewesen, sondern auch kulturelle „Anzündungen“.
  • Dematerialisierung – der Schritt von der Hardware zur Software, wobei die Wissensarbeiter die Herrschaft in der Gesellschaft übernehmen.
  • Dezentralisierung – Stichworte sind hier Outsourcing, Grenzübertritte und zunehmende Selbstständigkeit.

Aus diesen vier Trends ergeben sich vier direkte und indirekte Folgen:

  • Die Regierbarkeit, die so genannte Governance, gestaltet sich zunehmend schwierig.
  • In den Jahren 2009 bis 2014 wird die Digitalisierung die komplette Gesellschaft durchdrungen haben. Die New Economy nimmt sich in diesem Hinblick als „erster Hüpfer“ aus.
  • Neue Rahmenbedingungen für die Politik.
  • Die Zeit des Umbruchs hört nie auf, im Gegenteil: Alles wird sich sogar noch schneller ändern, die 90er Jahre gaben darauf einen ersten Vorgeschmack. Für CEOs einer Firma, die im Schnitt gerade einmal 18 Monate im Amt weilen, ergeben sich daraus schier unüberbrückbare Zeitmanagement-Schwierigkeiten.

„Wie wird sich das für uns alle auswirken“, fragte Glotz, um anschließend sein mittlerweile bekanntes Modell der Zweidrittel-Gesellschaft auszubreiten. Das obere Drittel wird von den Knowledge-Workers gestellt, der Mittelstand, direkt abhängig vom ersten Drittel und als Handwerker oder Kabelleger tätig, macht das zweite Drittel aus. Der Rest, aus den Konzernen herausrationalisiert und/oder nicht mehr bereit, den beschleunigten Lebensstil weiter zu frönen, wird von Glotz als „Bodensatz struktureller Arbeitslosigkeit“ bezeichnet. Dieser Bodensatz, eher sind es 20 als 33 Prozent vermutet Glotz, kauft bei Aldi und schafft es bei geregelter Lebensführung sogar, sich einmal im Jahr den Flug nach Mallorca zu leisten. Diese ökonomisch Randständigen pflegen einen eigenen Lebensstil, der im Wesentlichen als „entschleunigt“ bezeichnet werden kann. Glotz zitierte in diesem Zusammenhang die „glücklichen Arbeitslosen“ vom Prenzlauer Berg.

Dem Auditorium in Mannheim, in seiner Mehrheit eindeutig dem oberen Drittel zuzuordnen, gab Glotz mit auf den Weg, dass jede Beschleunigung auch Phasen der Entschleunigung brauche. Ansonsten komme es zum gefürchteten Burnout. Der Weg zurück ins Industriezeitalter bleibt aber unwiederbringlich versperrt. Die Zukunft werde uns ohne Zweifel noch mehr Konflikte bescheren als dies heute schon der Fall ist. Es obliege der Verantwortung des oberen Drittels, sich diesen Konflikten zu stellen.

ZDNet.de Redaktion

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