Trotz erheblicher Investitionen in Technologien der künstlichen Intelligenz (KI) haben etwa 75 Prozent der KI-Implementierungen in Unternehmen noch nicht den erwarteten Nutzen gebracht. Dies meldet der jüngste Forschungsbericht „ISG Market Lens“ des Marktanalysten Information Services Group (ISG).
Weitere aktuelle Untersuchungen von ISG sowie des AI Maturity Index zeigen, dass diese Misserfolge oft mit kulturellen Faktoren des jeweiligen Marktes zu tun haben. Erfolgsentscheidend seien statt der eigentlichen Technologie vielmehr nationale Denkmuster. Demnach entscheiden vor allem sie darüber, inwieweit KI-Implementierungen erfolgreich sind und wie viele Ressourcen Unternehmen nach der Einführung eines KI-Systems tatsächlich einsparen.
Effizienzmetriken – eine Illusion?
Generell sind sich Führungskräfte in Unternehmen länderübergreifend des enormen Potenzials von KI bewusst: Zeit sparen, Aufgaben automatisieren und Mitarbeiter in die Lage versetzen, sich in kreativeren und anspruchsvolleren Tätigkeiten zu entfalten. So sagen dem „ISG State of the GenAI Market Report 2024“ zufolge 88 Prozent der Führungskräfte mit KI-Entscheidungsverantwortung, dass die Technologie die Produktivität ihres Unternehmens entscheidend beeinflussen wird. Diese Zuversicht kann allerdings auch dazu führen, dass übermäßig enthusiastische KI-Effizienzkennzahlen verwendet werden, um millionenschwere Investitionen in KI zu rechtfertigen.
Die ISG-Forschung zeigt zudem, dass ein enger Fokus auf erwartete Effizienzsteigerungen zu erheblichen Reibungen führen kann – zwischen einerseits Führungskräften, die KI nur durch mit Blick auf ihre Produktivität betrachten, und andererseits ihren Teams, die KI umfassender betrachten, etwa die Auswirkungen auf Arbeitsqualität, Mitarbeiterautonomie und berufliche Identität.
Eine Analyse des AI Maturity Index mit über 200.000 Datenpunkten aus 75 Ländern zeigt, dass KI-Implementierungen zumeist zu keiner Zeitersparnis für die Mitarbeiter führen. Es ist demnach sogar so, dass die „effizientesten“ Implementierungen – gemessen an traditionellen Metriken – auf den stärksten Widerstand der Belegschaft stoßen. Implementierungen, die bescheidene Effizienzgewinne aufweisen, werden hingegen häufig positiv angenommen. Diese Diskrepanz fällt unterschiedlich aus, je nachdem, ob die jeweiligen KI-Einführungen einem Bottom-up- oder einem Top-down-Ansatz folgen.
Kulturelle Denkmuster prägen Entscheidungen und Implementierung
Die jeweilige Kultur in verschiedenen Ländern hat ISG zufolge einen erheblichen Einfluss darauf, wie Unternehmen an KI-Implementierungen herangehen und wie die Mitarbeiter auf diese Initiativen reagieren. „Hierarchischere Gesellschaften, insbesondere in Teilen Asiens, verfolgen überwiegend Top-Down-Ansätze“, sagt ISG-Beraterin Dorotea Baljević Nordamerika und Gastgeberin des ISG AI Impact Summit, der am 23. und 24. Juni in Frankfurt (Main) stattfindet. „Die meisten europäischen Länder bevorzugen dagegen eher Bottom-up- und eigenverantwortete Implementierungsstrategien“, so Baljević weiter.
Historisch betrachtet hat sich die amerikanische Tech-Branche – insbesondere das Silicon Valley – durch eine hohe Offenheit für Innovation und höhere Risikobereitschaft ausgezeichnet. Experimentelle Ansätze und schnelle Iterationen werden gefördert, zumal amerikanische Unternehmen oft einer „Fail Fast“-Mentalität folgen, die kontinuierliches Lernen durch praktische Anwendung anstelle perfekter theoretischer Modelle schätzt.
Dorotea Baljević, Principal Consultant bei der Information Services Group (ISG): „In den deutschsprachigen Ländern ist der Einsatz von KI eher auf Qualität als auf Quantität ausgerichtet.“
In Deutschland, Österreich und der Schweiz (DACH) herrscht hingegen eine vorsichtigere Umsetzungs- und Experimentierkultur. Sie ist durch strengere rechtliche Rahmenbedingungen und eine verstärkte Sorge um den Datenschutz geprägt.
Europa als Ganzes ähnelt in Bezug auf KI-Nutzungsraten, Effizienzsteigerungen und Mitarbeiterakzeptanz stark den Werten in Nordamerika. Die DACH-Region stellt jedoch eine bemerkenswerte Ausnahme dar. So zeigt die Forschung des AI Maturity Index, dass DACH-Unternehmen am untersten Ende vieler Skalen rangieren: „Sie weisen die niedrigsten KI-Nutzungsraten, die niedrigste Zufriedenheit der Mitarbeiter und die niedrigsten Effizienzbewertungen in ganz Europa auf“, sagt Eryn Peters, Mitgründerin des AI Maturity Index. „Dies verdeutlicht, wie sehr sich kulturelle Unterschiede in der Einführung von KI niederschlagen.“
In DACH überwiegen demnach zwar autonome Bottom-up-Ansätze bei der KI-Einführung. Dies spiegelt auch die kulturelle Betonung des individuellen Fachwissens in diesen Ländern wider. Dennoch berichten die Befragten in DACH von unverhältnismäßig vielen negativen individuellen Reaktionen auf KI-Implementierungen und schätzen die erreichten Zeiteinsparungen als nur niedrig ein. Auch IT-Führungskräfte in DACH erkennen ähnliche Muster.
Visad Kasniqi, Senior Vice President Digital Industries & Operations bei Bosch hat sich intensiv mit der digitalen Transformation in der DACH-Region beschäftigt und aus erster Hand erfahren, wie kulturelle Eigenheiten die Einführung von KI beeinflussen. „Anders als in den USA oder in Gesamt-Europa legen DACH-Unternehmen bei jeder KI-Initiative Wert auf Governance, Transparenz und Rechenschaftspflichten“, sagt Kasniqi. „Es handelt sich hier nicht um Zögern, sondern um strategisches Risikomanagement. In Deutschland beispielsweise nennen 71 Prozent der Führungskräfte den Datenschutz als größtes Hindernis für die Skalierung von KI. Das hat kaum mit mangelndem Ehrgeiz zu tun, sondern basiert auf einem starken Verantwortungsgefühl gegenüber Mitarbeitern und Gesellschaft.“
Dieser Fokus halte Konflikte vergleichsweise klein und führe – ironischerweise – zu langfristig höherer Akzeptanz, sobald das notwendige Vertrauen existiere. Top-down-Entscheidungen seien hier nach wie vor die Norm. Aber wenn sie mit klaren ethischen Rahmenbedingungen und Weiterbildung von unten nach oben gepaart seien, führten sie zu nachhaltigem Engagement statt zu Widerstand. „Im Grunde geht es bei der Einführung von KI in der DACH-Region weniger um Schnelligkeit als vielmehr darum, sich die Lizenz zum KI-Betrieb dauerhaft zu sichern.
Autonomie der Mitarbeitenden
Dieser ausbalancierte Ansatz deckt sich dann auch mit vielen Einführungsprojekten in den USA, die sowohl strategische Initiativen von oben nach unten als auch Experimente von unten nach oben miteinander kombinieren. Die Befragten in den USA berichten hier von höheren Effizienzgewinnen und ausgewogeneren Reaktionen seitens der Mitarbeiter.
Der Zusammenhang zwischen der Autonomie, eigene Entscheidungen treffen zu können, und der Akzeptanz von KI ist länderübergreifend ähnlich ausgeprägt. Wenn Mitarbeiter das Gefühl bekommen, dass sie bei KI-Einführungen mitbestimmen können, sind diese Implementierungen auch erfolgreicher.
Allerdings wird dieses Muster durch den kulturellen Kontext stark beeinflusst. In DACH lösen sogar selbstbestimmte Entscheidungen Bedenken hinsichtlich Qualität und Verantwortlichkeit aus – kulturelle Werte, die tief im Arbeitsethos dieser Länder verankert sind. In den USA hingegen erzielen kollaborative Entscheidungen oft die besten Akzeptanzraten, da sie ein Gleichgewicht zwischen Vorgaben und Autonomie schaffen.
Diese Dynamik ist in bestimmten Branchen noch deutlicher ausgeprägt. „Banken und Finanzdienstleister in den deutschsprachigen Ländern weisen trotz geringerer KI-Nutzungsraten eine ungewöhnlich hohe Anwenderakzeptanz auf“, berichtet ISG-Beraterin Dorotea Baljević. „Das deutet darauf hin, dass der Einsatz von KI eher auf Qualität als auf Quantität ausgerichtet ist und damit den kulturellen Werten entspricht. Umgekehrt würden die US-Tech-Branchen von einer regen Nutzung bei mäßiger Akzeptanz berichten. „Dies spiegelt eine eher utilitaristische Beziehung zu KI-Tools wider.“
Kulturelle Intelligenz als Wettbewerbsvorteil
Die erfolgreichsten Unternehmen sind laut ISG-Studie nicht unbedingt diejenigen, die am meisten Zeit durch KI sparen. Es sind diejenigen, die ihren KI-Implementierungen mit ihrem kulturellen Kontext in Einklang gebracht haben. Die Erkenntnis, dass die Einführung von KI eine menschliche und kulturelle Herausforderung ist und nicht nur eine technologische, führt dazu, dass diese Unternehmen nachhaltige Wettbewerbsvorteile erzielen.
Unternehmen, die demnach den kulturellen Kontext in Bezug auf Autonomie, Qualitätssicherung und Entscheidungsfindung berücksichtigen, sind denjenigen Unternehmen voraus, die sich überwiegend auf technologische Aspekte konzentrieren. Jeder umfassende Rahmen für KI-Implementierungen muss Kultur und länderspezifische Denkmuster als entscheidende Dimensionen miteinbeziehen.
Drei Erfolgsfaktoren für die KI-Einführung
Anstatt sich bloß auf eine (oft) illusionäre Zeitersparnis zu konzentrieren, ermutigen Dorotea Baljević von ISG und Eryn Peters vom AI Maturity Index Unternehmensentscheider dazu, drei Sofortmaßnahmen zu ergreifen, mit denen sie kulturelle blinde Flecken in ihrer KI-Strategie beseitigen können:
1. Kulturelles Assessment vor der technischen Umsetzung:
Welche kulturellen Erwartungen existieren im Unternehmen in Bezug auf Autonomie, Qualitätssicherung und Entscheidungsprozesse? Auf Basis dieser Bewertung lassen sich KI-Ansätze maßgeschneidert gestalten, anstatt einer generischen globalen Strategie zu folgen.
2. Governance-Modelle, die kulturelle Erwartungen berücksichtigen:
KI-Implementierungen in DACH erfordern explizite Rahmenwerke für die Qualitätssicherung und klar definierte Verantwortlichkeiten. So profitieren länderübergreifende Implementierungen innerhalb der EU von flexiblen Leitplanken, die zum Experimentieren ermutigen und gleichzeitig das Risiko angemessen steuern.
3. Entwicklung ausgewogener Metriken:
Traditionelle Kennzahlen wie Zeitersparnis sollten durch Messungen ergänzt werden, welche Mitarbeiterakzeptanz, Nutzerverhalten und Übereinstimmung mit der jeweiligen Arbeitskultur erfassen.
Dorotea Baljević und Eryn Peters zufolge ist die entscheidende Frage nicht, ob ein Unternehmen KI einführen will, sondern ob es sich auf dem Weg zum Einsatz erfolgreich durch das kulturelle Terrain bewegt.
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