Warum Europa das Internet immer noch nicht verstanden hat

In den USA gab es einmal eine ähnliche Regelung, die sich aber nur auf Rundfunksprecher bezog, die sog. Fairness Doctrine. 1969 entschieden die Richter des Supreme Court im Fall Red Lion gegen die Federal Communications Commission, dass dem liberalen Autor Fred Cook das Recht zu einer Gegendarstellung gegenüber Kritik von Seiten eines konservativen Moderators des Radiosenders WGCB in Pennsylvania eingeräumt werden müsse. Schließlich brachte Präsident Ronald Reagan die Fairness Doctrine Mitte der 1980er Jahre zu Fall, wobei er den verfassungsmäßig garantierten Schutz der freien Rede anführte und auf den womöglich „behindernden Effekt“ einer solchen Regelung in Bezug auf kontroverse Aussprachen hinwies: angesichts der lästigen Anforderung, jedermann das Recht zu einer Gegendarstellung einräumen zu müssen, würden sich die meisten Rundfunkmoderatoren hüten, irgendetwas Kontroverses zu senden.

Aber selbst zu Hochzeiten der Fairness Doctrine ging der U.S. Supreme Court niemals so weit wie die Eurokraten. Diese Richter unterstützten niemals die Vorstellung, dass Print-Medien gezwungen würden, jedermann und in jedem Fall das Recht zur Gegendarstellung zuzubilligen – selbst nicht bei sehr einflussreichen Publikationen. Mit einem einstimmigen Urteil wurde 1974 im Fall Miami Herald Publishing gegen Tornillo ein Gesetz des Bundesstaats Florida für nichtig erklärt, das Politikern das Recht zu einer Gegendarstellung gab, sobald sie von einer Zeitung kritisiert wurden.

In den USA gab es einmal eine ähnliche Regelung, die sich aber nur auf Rundfunksprecher bezog, die sog. Fairness Doctrine.
Die 30 Jahre alte Begründung dieser Richter wirft ein präzises Licht darauf, wie handwerklich unzulänglich und wie schlecht durchdacht der derzeitige Entwurf des Europarats wirklich ist.

Erstens benachteiligt das Recht auf eine Gegendarstellung Autoren oder Publizisten im Internet. Es erfordert Zeit, eine Gegendarstellung entgegenzunehmen, sie für den vorgesehenen Platzbedarf zu redigieren und zu verifizieren, dass sie tatsächlich von der kritisierten Person stammt. In vielen Fällen dürften die Kosten nur minimal sein, aber in Grenzfällen kann dieses Recht zu einer Beschränkung wirklicher politischer Diskussion führen – immerhin das Herz der Demokratie.

Zweitens stellt der Entwurf die Auffassung von nicht-gewählten Bürokraten darüber, welche Inhalte für eine Mailing-Liste, einen Chatroom oder ein Web-Log angemessen sind, über die Meinung dessen, der diese Foren geschaffen hat. Es gibt durchaus andere Möglichkeiten der Checks and Balances als diese Holzhammermethode. So werden die Leser im Laufe der Zeit selber merken, wenn eine Publikation voreingenommen ist oder häufig Falschmeldungen bringt, und sich anderen – zuverlässigeren – Quellen für Nachrichten und Meinungen zuwenden. Außerdem ist es für viele Blogger längst gängige Praxis, Links zu ihren Kritikern zu veröffentlichen.

Drittens dürfte der Plan des Europarats nicht in die Praxis umzusetzen sein. Bereits heute gibt es in Irland, Portugal und Großbritannien bei traditionellen Medien kein Recht zur Gegendarstellung, und man wird darauf wetten können, dass sie dies auch für das Internet nicht einführen werden. Ein europäischer Blogger, der seine Identität verbergen wollte, würde einfach einen Account in einem dieser Länder einrichten – oder in den USA.

Man sollte allerdings auch festhalten, dass der Europarat auf anderen Gebieten wichtige Ergebnisse erzielt hat. Am 28. Mai veröffentlichte er die Erklärung zur Kommunikationsfreiheit im Internet, welche die Regierungen dazu auffordert, keine blockierende Software zuzulassen und die Anonymität zu beachten. Dann wiederum ist die Organisation manchmal auch geradezu zensurwütig, so z.B. als sie letztes Jahr einem Bann von ‚Hasstiraden‘ im Internet zustimmte – oder bei dem unheimlichen Cybercrime-Vertrag, der von der Polizei und den nationalen Sicherheitsdiensten begrüßt werden dürfte, welche die Bürger weltweit ja gar nicht genug ausspionieren können.

Auch wenn der Europarat sehr einflussreich ist und seine Vorschläge tendenziell zu Gesetzen werden, ist dieses Ergebnis doch nicht unbedingt garantiert. Nach der voraussichtlich noch in dieser Woche erfolgenden Zustimmung einer Arbeitsgruppe wird der gesamte Rat über den Entwurf abstimmen, der dann für die letzte Zustimmung an die Mitgliedstaaten geht.

Europäische Blogger, die weiterhin ihren echten Namen verwenden wollen, dürften also Pech haben. Wie dem auch sei: Europa fehlt einfach ein entsprechender Verfassungsgrundsatz und die Wertschätzung einer eingeschränkten Regierung, privaten Eigentums und freien Unternehmertums, wie sie in Amerika noch immer praktiziert wird. Und Europa hat auf jeden Fall keinen Richter Stewart Dalzell, der schon vor sieben Jahren richtig voraussagte, dass „die Stärke unserer Freiheit von dem Chaos und der Vielstimmigkeit uneingeschränkter freier Rede abhängt, wie es unsere Verfassung im First Amendment schützt.“

Themenseiten: Analysen & Kommentare, IT-Business

Fanden Sie diesen Artikel nützlich?
Content Loading ...
Whitepaper

Artikel empfehlen:

Neueste Kommentare 

Noch keine Kommentare zu Warum Europa das Internet immer noch nicht verstanden hat

Kommentar hinzufügen

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind markiert *