Schuler: Plötzlich CEO

Barry Schuler trägt seine Geek-Abzeichen offen

Dulles, Vancouver – Er hat sein Domizil im ländlichen Virginia mit einem drahtlosen Netzwerk ausgerüstet, so dass er von jedem Stockwerk aus auf seine Sammlung digitaler Musik und Photos zugreifen kann. In seinem Eckbüro in der Zentrale von America Online steht ein IMSAI-Microcomputer – ein Vorgänger des PCs – den er Mitte der 70er Jahre selbst zusammengebaut hat.

Wer ihn kennt weiß, dass seine Liebe zu Spielereien eine Menge über Schuler als Vorsitzender und Chief Executive von AOL (Börse Frankfurt: AOL) aussagt – gutes wie schlechtes. „Barry mag nicht über Zahlen und Ziele reden“, berichtet ein früherer AOL-Executive. „Er will über das Interface und die Spielereien reden. Barry ist als kreativer Kopf ganz oben in seinem Element.“

Heutige und ehemalige Kollegen beschreiben den 48-Jährigen als Visionär mit einer möglicherweise gefährlichen Ader, einen Mann, der es liebt mit der Technik herumzuspielen und sich in die Produktentwicklung zu versenken. Sie geben allerdings auch zu, dass er nicht die Art von Geschäftssinn und Erfahrungen mitbringt, die für seine Aufgabe benötigt würde, die zugegebenermaßen der heißeste Stuhl im Firmenimperium von AOL Time Warner ist.

Von allen Besitztümern des Medienkonglomerats ist Schulers Sparte diejenige, von der erwartet wird, die hochgesteckten Prognosen zu erfüllen und die Wall Street zu befriedigen. Executives in seiner Gewichtsklasse sind noch stärker ins öffentliche Interesse gerückt, seit Gerald Levin, CEO von AOL Time Warner, im letzten Monat unerwartet angekündigt hat, sich im Mai zurückziehen zu wollen. Obwohl Schuler erst seit 1995 bei AOL ist, steht er doch für die alte Garde, die an der Spitze des Online-Unternehmens war, bevor die Fusion mit Time Warner erfolgte. Seine Führung wird besonders von denen beobachtet, die nach Hinweisen zum künftigen Kopf des Unternehmens suchen. Als Levin seinen langjährigen Hauptmann Richard Parsons zum Nachfolger anstelle von Mit-Chief Operating Officer Robert Pittman – AOLs President vor der Fusion – machte, schien diese Position eindeutig in Richtung Time Warner zu tendieren.

Eine Schlüsselfrage ist, ob Schulers Führungsverhalten die richtige Kombination für die Herausforderungen bildet, vor denen AOL jetzt steht, unter anderem nichts geringeres, als eine völlige Neuordnung des Unternehmens. Mit dem Beginn des Jahres 2002 hofft America Online, sich von einem Provider von Wählverbindungen ins Internet zu einem Knotenpunkt für Hochgeschwindigkeitsunterhaltung und E-Commerce im Internet zu entwickeln.

Schulers Aufgabe ist es, „einen Upgrade-Pfad zu bauen…und Kunden zu ermöglichen, die AOL-Welt über jede Art Verbindung erleben zu können“, sagt Robert Martin, ein Kapitalanalyst bei Friedman Billings Ramsey.

Das ist keine leichte Aufgabe, bedenkt man, dass AOL seit Schulers Ruderübernahme Anzeichen von Schwäche zeigt. Zu den Problemen gehören schwache Werbeeinnahmen, nachlassende Neubenutzeranmeldungen und wachsender Wettbewerb durch Microsoft, die mit neu entfachtem Eifer bei der Sache sind.

Im Januar war AOL Time Warner gezwungen, die Gewinnprognose zu überarbeiten und zuzugeben, dass die Fusion die schlechte wirtschaftliche Situation nicht unbeschadet überstehen würde, zum Teil aufgrund der enttäuschenden Performance von America Online. Das Unternehmen sprach von einem EBITDA von knapp unter 10 Milliarden Dollar für 2001, also ungefähr eine Milliarde Dollar weniger, als die ursprüngliche Angabe. Das Wachstum im EBITDA wurde für 2002 mit möglicherweise nur acht Prozent angegeben und der Ertrag mit etwa 40 Milliarden Dollar – eine Schwelle, die das Unternehmen bereits Ende letzten Jahres hätte erreichen sollen. (Analysten sehen EBITDA – Gewinne vor Zinsen, Steuern, Abschreibungen und Amortisierung – als Schlüsselzahl für die finanzielle Performance von Medienunternehmen an.)

Zu noch größerer Besorgnis gibt der Umstand Anlass, dass Onlinedienste über Wählverbindungen in den Vereinigten Staaten kaum mehr Wachstum aufweisen. Zwar hat AOL in 35 Tagen im vierten Quartal 2001 etwa eine Million neue Kunden geworben, doch Analysten behaupten, dass die Wachstumsrate abflacht.

Youssef Squali, Kapitalanalyst bei FAC/Equities, schätzt, dass AOL im gesamten Quartal etwa 1,7 bis 1,8 Millionen Neukunden gewonnen hat; im Vorjahr waren es allerdings zwei Millionen. „Es gibt keine Uneinigkeit darin, dass die Neukunden für Wählverbindungen in der gesamten Branche weniger werden“, sagt Squali.

Diese langsame Gangart betrifft nicht nur AOL, aber das schützt Schuler nicht davor, für die nachlassenden Zahlen des Unternehmens verantwortlich gemacht zu werden. Einige sind der Meinung, dass ihm von oben weniger Vertrauen entgegengebracht wird, da Levin im November J. Michael Kelly von der Position des Chief Financial Officer bei AOL Time Warner in die des Chief Operating Officer von America Online versetzt hat. Diese Position war seit Pittmans Ernennung zum Mit-Chief Operating Officer von AOL Time Warner vakant.

Quellen aus der Umgebung dieser Entscheidung behaupten, bei dem Schritt könnte es weniger darum gehen, Schuler nachdenklich zu stimmen als vielmehr darum, ihm mehr Luft zu verschaffen, um das Unternehmen nach vorn zu führen. Trotzdem ist es keine Frage, dass Kellys Wiederernennung speziell dazu dient, AOL mehr Disziplin im Geschäft abzuringen.

„Möglicherweise soll er (Schuler) als Opferlamm herhalten“, sagt David Simons, Geschäftsführer des Marktforschungsunternehmens Digital Video Investments. „Wenn die Sache nicht läuft…tauschen viele Unternehmen einfach jemanden aus.“

Zurückhaltung trotz Blumenmustern

Als kantiger Mann aus New Jersey bringt der Spitzbartträger Schuler seine Extravaganz nicht zuletzt durch seine Hemden mit Blumenmustern in Kombination mit dunklen Anzügen zum Ausdruck. Seine Karriere bei AOL hat im in finanzieller Hinsicht gut getan, verhalf sie ihm doch beim Erwerb einer 25-m-Yacht und eines über zwölf Hektar großen Weinbergs im Weinanbaugebiet des Napa Valley.

AOL-Veteranen halten Schuler für ausschlaggebend für den Firmenerfolg und nennen als Beispiel seine Überarbeitung der Benutzeroberfläche Mitte der 1990er, die etwa 33 Millionen Internet-Neulinge zu AOL-Unterstützern machte.

Trotzdem hat er einen gewundenen und zurückhaltenden Weg nach oben genommen und ist nie wirklich aus den Schatten von Pittman und AOL-Gründer Steve Case getreten, selbst dann nicht, als er CEO geworden war.

Nach einem Psychologie-Studium an der Rutgers Universität wandte Schuler sich Werbung und Marketing zu und wurde Mitbegründer einer Kreativagentur namens CMP, die sich auf Hightech-Kunden spezialisierte. Nach zehn Jahren verließ Schuler CMP und kümmerte sich um Cricket Software, die 1989 an Computer Associates verkauft wurden. Danach ging er nach Kalifornien und half bei der Gründung von Medior, einem Software-Unternehmen, dass AOL überarbeiten sollte, kurz nachdem die Zahl von 1 Million Mitgliedern erreicht und das Unternehmen zum drittgrößten Onlineanbieter hinter CompuServe und Prodigy geworden war.

Schuler „war sehr rechthaberisch und folgte seinem Instinkt“, erinnert sich Eri Golembo, Partner bei CMP. „Er wusste, dass sein Gefühl den richtigen Weg wies und setzte viel daran, ihn zu gehen. Er ist sehr starrköpfig, denn er wird nicht zurückstecken wenn er glaubt, dass er auf dem rechten Weg ist.“

Obwohl AOLs Erfolg seit langem den Marketingprofis zugeschrieben wird, wird auch Schulers einfaches und klares Design oft gerühmt. Case war davon so beeindruckt, dass er Medior im Mai 1995 für etwa 30,9 Millionen Dollar in Aktien kaufte.

„Wenn es darum ging, wie AOL aussehen sollte, waren alle im Zimmer der Meinung, es auf eine Art zu tun. Barry lehnte sich dann zurück und sagte ‚Nein, wir machen es so.‘ Und er hatte recht“, sagt David Weiden, ein ehemaliger Kollege, der jetzt Vize-President Marketing im Internet-Telefonunternehmen Tellme Networks ist.

Warten auf die Revolution

Heute ist Schuler stets bereit, über seine großartige Vision des neuen Hochgeschwindigkeits-AOL zu sprechen. Genauso eifrig übersieht er Neinsager. Wenn man ihm auch nur den Hauch einer Chance lässt, entwirft er Bilder von mit dem Internet verbundenen Stereoanlagen und Weckern, die AOL-Dienste an die Massen verteilen – daheim in ihren Wohn- und Schlafzimmern und unterwegs.

„Sobald die Breitbandplattform in die Häuser Einzug halt, beginnt eine Revolution“, äußerte er sich kürzlich in einem Interview mit CNET News.com. Trotz all seiner Begeisterung ist Schulers Strategie für AOL erstaunlich vorhersehbar für jemanden, der als Internet-Visionär geschätzt wird. Sein Plan besteht praktisch darin, höhere Monatseinnahmen aus wachsenden Abonnentenzahlen zu gewinnen.

Das bedeutet letztlich, so viele Kunden wie möglich auf die Hochgeschwindigkeitsbreitbandzugänge umzustellen und gleichzeitig die neuen Unterhaltungsangebote von AOL Time Warner anzupreisen. Im Dezember hat AOL beispielsweise einen neuen Musik-Abokanal vorgestellt, für den Kunden zusätzlich zur Grundgebühr von 23,90 Dollar eine Gebühr von 9,95 Dollar im Monat zahlen sollen.

Schulers Optimismus lässt keinen Raum für Fragen zur Gesundheit seiner Abteilung. „Gehen wir etwa einer Zeit negativen Wachstums entgegen? Das passiert bestimmt nicht“, sagt er. Wenn die Sprache auf Microsoft und sinkende Abonnentenzahlen kommt, verleugnet er jegliches Problem. Zwar anerkennt er, dass Microsoft ein Rivale ist, dem man genau auf die Finger schauen muss, aber er hat die Bedeutung einer direkten Konfrontation der beiden Unternehmen lange Zeit heruntergespielt.

Das könnte sich als Wunschdenken erweisen. Zwar hinkt MSN deutlich hinter AOL im US-Internetmarkt her, aber Microsoft fällt auf vielen anderen Fronten ein, zum Beispiel im Instant Messaging und bei Abonnementdiensten . Mehr noch, AOLs Dominanz im Einwahlmarkt mag wenig zählen, wenn sich die Branche auf Breitband konzentriert.

AOL ist der zweitgrößte Kabelbetreiber in den Vereinigten Staaten, muss sich aber durch Übernahmen und Partnerschaften ausweiten, um nationale Breitbanddienste anbieten zu können. Ein herber Schlag war das Unterliegen gegen Comcast im Dezember, als es um die Übernahme von AT&T Broadband, dem größten Kabelnetzwerkbetreiber Amerikas, ging. Von all diesen Dingen scheint Schuler unbeeindruckt; er setzt wohl seine Hoffnung in die Zukunft und will die gegenwärtigen Probleme aussitzen.

„Hat uns der schnellere Rückgang im Werbegeschäft, als wir uns ihn vorstellen konnten, beeinflusst? Ja“, gibt Schuler zu. „Glaube ich, dass wir einem Geschäft nachgehen, dessen Abwärtstrend lange anhalten wird? Ganz bestimmt nicht.“

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